- Sozial & Gerecht
- Bildung
- Grüne Debatte
- Sozial.Staat.Zukunft
Novy/Maißer - Der Aufstieg der Narren und die Rückkehr der Vernunft
Verrücktheiten von rechts kommen auch von Front National, AfD oder PiS in Polen und machen selbst vor Massenabschiebungen und Handels- und Kulturkriegen mit China und „dem Islam“ nicht halt. Glauben wir den Berichten, dann kommen die Verrückten aber auch von links. Neben Bernie Sanders, dessen Forderungen nach bezahlter Elternzeit, gesetzlicher Krankenversicherung und freier Hochschulbildung die amerikanische Volkswirtschaft in „ernste Gefahr“ brächten, „fantasiert“ in Großbritannien Jeremy Corbyn von einer gerechteren Gesellschaft und bereitet damit Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum schlaflose Nächte.
TINA ist am Ende
Ist es wirklich sinnvoll, alle, die etablierte Wahrheiten anzuzweifeln beginnen, als
verrückt abzukanzeln? Ist es nicht vielleicht besser, genauer hinzusehen, warum
heute überall Personen, Parteien und Gruppierungen mit Forderungen auf-treten, die noch vor wenigen Jahren undenkbar waren? Sind die herrschenden Meinungen vielleicht gar nicht so vernünftig, sondern vor allem opportun für die, die heute Geld und Einfluss haben? Tatsache ist, dass die Narren – von rechts und links – trotz aller Bemühungen, an der Trennlinie zwischen Vernunft und Wahn festzuhalten, enormen Zuspruch bekommen.
Könnte dieser Zuspruch nicht gerade damit zu tun haben, dass das, was in den vergangenen Jahren als Vernunft definiert wurde, zunehmend zu einem Dogma
verkommen ist? Als vernünftig galt die Einsicht, „There is no alternative“ (TINA)
zu einer neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung mit Finanzmärkten, Sozialdumping und Steueroasen. Doch wenn der vermeintlich „einzig vernünftige“ Weg zu immer mehr Ungleichheit, zu immer größerer Verunsicherung und immer prekäreren Arbeitsverhältnissen führt, dann steigt die Versuchung, es anders zu machen, auch wenn es als unvernünftig bezeichnet wird. War TINA nach dem Desaster des Staatssozialismus plausibel, so erscheint eine Welt, in der die Einzelnen schutzlos globalen Marktkräften ausgesetzt sind, zunehmend bedrohlich – und definitiv nicht vernünftig. Spätestens seit der großen Krise 2008 klingen die Versprechungen der liberalen wirtschaftlichen Globalisierung hohl. Dies erklärt auch die Sehnsucht nach Heimat, wie sie uns im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf von Plakaten entgegenblickt. Vertrautheit und Schutz sind verständliche Wünsche in einer Welt im Umbruch.
Die Stunde der Antiliberalen?
Während seit Ende des Kalten Krieges Zäune und Grenzen in Europa nur noch Relikte vergangener Zeiten darstellten, werden heute erneut Zäune errichtet und Mauern gefordert. Der Weg zurück zum isolationistischen Nationalstaat und zur Ausgrenzung von Fremden und Andersdenkenden droht nicht nur, er wird umgesetzt – vor unserer Haustür in Ungarn und in Polen. Die Stunde der Antiliberalen scheint gekommen: Orban stimmt den Abgesang der liberalen Demokratie an, kritisiert die Globalisierung und stigmatisiert Arme und Roma. Sein autoritäres Modell bietet all denjenigen Sicherheit und Heimat, die sich fleißig und ehrlich der richtigen Wertegemein-
schaft unterordnen. Die Kritik der Rechten
fußt wesentlich auf einer Kritik der neoliberalen Globalisierung und einer Zivilisation auf Grundlage universeller Menschenrechte. Ein globaler Kulturkampf wird herbeiredet – mit unabsehbaren Folgen.
Gegen diese Antiliberalen braucht es eine solidarische Alternative, die aber gleichzeitig TINA kritisiert. Da helfen die linken „Narren“, von Bernie Sanders bis Podemos, die die neoliberale Politik des Mainstreams als eine wesentliche Ursache des Aufstiegs der Rechten ent-
larven. Weltoffenheit und Internationalis-mus dürfen nicht gleichgesetzt werden mit einer Welt, in der Konzerne Geld und Waren ungehindert und steuerfrei
um den Globus schicken, während gleichzeitig Zäune und Grenzen Migration unterbinden. Die Narren laden
uns also ein, Vernunft neu zu denken: Die Chance der aktuellen Krise besteht darin, sich von der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung zu verabschieden, ohne Internationalismus und Solidarität über Bord zu werfen. Mit dem Ende der Alternativenlosigkeit ist es wieder möglich, gemeinsam ernsthaft zu überlegen, in welcher Welt wir leben wollen.
TAMARA ist zurück
Es geht nämlich auch anders; und angesichts der antiliberalen Radikalisierungen
muss es rasch anders werden. Europa darf nicht zu einer Festung der Reichen verkommen, die meint, ihr Wohlstand sei nur gesichert, wenn Andersdenkende
und Schutzsuchende bekämpft werden. Gerade weil antiliberale Kräfte Spaltung und Hass verbreiten, braucht es den Charme von TAMARA („There are many and real alternatives“). Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wohlfahrtsstaat die Antwort auf Krieg und Rassismus. Für Jahrzehnte brachte er in Westeuropa
soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge, sprich ein gutes Leben für viele. Solidarität und sozialer Zusammenhalt sind aber auch heute die vernünftigste Alternative zu Spaltung und sozialem Abstieg. Der Neoliberalis-mus hat all diese Errungenschaften untergraben und bereitet – wie in den 1920er Jahren – den Boden für Rechtsextremismus. Deshalb sind die Parteien der Nachkriegszeit heute allesamt diskreditiert.
Zum Glück gibt es viele solidarische Alternativen von unten, die nur darauf
warten, systematisch und flächendeckend umgesetzt zu werden: Schulen, in denen nicht nach Herkunft und Ethnie selektiert wird, Reparaturnetzwerke, die Grundlage einer regionalen Kreislaufökonomie werden, und interkulturelle Projekt, in denen in Vielfalt friedlich zusammen-gelebt wird. Solche Alternativen schaffen Sicherheit und Schutz, indem Menschen füreinander sorgen und gemeinsam ihr Zusammenleben gestalten – solidarisch und selbstbestimmt. Das mag für Neoliberale verrückt klingen, ist aber heute wohl die vernünftigste Antwort in verunsichernden Zeiten.
Georg Maißer ist verantwortlich für die Medienarbeit der Grünen Bildungswerkstatt.
Andreas Novy leitet das Institute for Multi-Level Governance and Development an der WU und ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt.