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Rauth, Laimer - Die Stadt der Vielen
Große Städte waren immer Orte der „Vielen“. Sie sind an der Kreuzung von Handelswegen entstanden, haben Arbeitskräfte angezogen, waren geistige oder kulturelle Zentren mit einer Ausstrahlung weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Die Stadt ist das gemeinsame Werk dieser „Vielen“: Literatur und Musik, Wissenschaft und Kunst, Architektur und Politik, Küche und Lebensart, Handwerk, Kreativität, Innovation sind Resultat des Zusammentreffens von Menschen heterogener Herkunft und vielfältigen Lebensentwürfen. Wien hat die bislang größte kulturelle und wissenschaftliche Blüte zum Zeitpunkt seiner höchsten Bevölkerungszahl in Folge von Jahrzehnten enormer Zuwanderung an der Schwelle des 19. ins 20. Jahrhundert erlebt – ebenso wie großes Elend.
Im Zuge des heutigen Bevölkerungswachstums fällt immer wieder das Schlagwort einer „neuen Gründerzeit“: Die Lösung der (Wohn-)Raumfrage ist einer der wichtigsten Schlüssel für die Entfaltung des potentiell vorhandenen Reichtums an Wissen, Können und Ideen – und eine zentrale Maßnahme gegen Armut und soziales Elend. Verwaltung und Politik sind gefordert, Antworten auf die gesellschaftlichen Spaltungstendenzen zu finden, die sich immer stärker räumlich manifestieren und immer mehr Menschen zurücklassen. Das verlangt auch nach einer grundlegenden Neuausrichtung im Verhältnis zwischen Politik, Verwaltung und Stadtbewohnerschaft, deren Wunsch nach aktiver Gestaltung ihrer Umwelt seit vielen Jahren überdeutlich zu Tage tritt und die sich längst nicht mehr als reine Konsumentin kommunaler Leistungen begreift.
Die Rückkehr der Wohnungsfrage
Die Verfügbarkeit von Raum zum Leben und Arbeiten bildet eine zentrale Basis für eine aktive Teilhabe am städtischen Leben. Seit Jahren zeigt sich, dass der Wegfall des Segments von sehr günstigen Wohnungen zwar die durchschnittliche Qualität der Wohnungen in Wien gehoben hat, gleichzeitig aber Wohnungssuchende vor ein großes Problem stellt, wenn sie über kein ausreichendes Einkommen verfügen. Das betrifft ZuwanderInnen aus ökonomisch schwächeren Ländern ebenso wie Studierende, Flüchtlinge ebenso wie junge Familien oder Erwachsene am Beginn ihres Erwerbslebens. In klassischen Ankunftsvierteln – wie etwa dem Stuwerviertel – sind große Teile der Substandard-Wohnhäuser in den letzten Jahren saniert worden und stehen damit einkommensschwachen Bevölkerungsschichten nicht mehr zur Verfügung: Aufgrund der Miete ebenso wie aufgrund der Veränderung des Charakters der Gegend durch diese Aufwertungsprozesse. Die zusätzliche Zahl an Geflüchteten, die jetzt neu auf den Wohnungsmarkt drängt, macht diesen Mangel an sehr günstigem Wohnraum erneut deutlich: Erste Fälle von ausbeuterischen Elendsquartieren zeigen, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
Möglichkeitsräume in der Stadt der Vielen
Doch der Bedarf geht weit über das Wohnen hinaus: Die urbane Gesellschaft benötigt Raum für Kennenlernen und Austausch, für Experiment und Entwicklung, für gemeinsames Denken und Handeln. Ohne solche öffentlichen und halböffentlichen Räume des Neben- und Miteinanders geht auch die Idee von gesellschaftlichem Zusammenhalt verloren, setzt sich eine gefährliche Entsolidarisierung in Gang. Die Mobilisierung und Öffnung von kommunalen und privaten Raumressourcen für Nachbarschaft, Soziales, Kunst und Kultur, für Experiment und Innovation, für gemeinsames Lernen und Entwickeln wirkt somit weit über die einzelnen Projekte hinaus und stellt eine der Maßnahmen gegen die längst vorhandenen und von populistischen Parteien immer weiter betriebenen gesellschaftlichen Spaltungen dar. Der Herbst 2015 hat gezeigt, dass es an innovativen Ideen und Fähigkeit zur Selbstorganisation auch in Wien keineswegs mangelt – an verfügbarem Raum jedoch deutlich. Neben der seit 2016 tätigen Agentur „Kreative Räume“, die in erster Linie private Raumressourcen für Kunst und Kreativwirtschaft mobilisieren soll, ist die Stadtpolitik daher dringend gefordert, den eigenen Leerstand zu öffnen sowie in Nutzung befindliche Räume „stadtnaher“ Organisationen für Mehrfachnutzungen zugänglich zu machen.
Das Recht auf Stadt als urbane Praxis
Für viele gesellschaftliche Felder werden seit Jahrzehnten sozial innovative Projekte in der Praxis entwickelt – in zahlreichen Nischen und meist weitab von institutionellen Akteuren. Eine Vielzahl an Initiativen experimentiert mit alternativen Handlungsräumen abseits des Dogmas der Profitmaximierung: Organisiert als Genossenschaft, gemeinnützige Gesellschaft oder Verein sind diese Projekte Teil eines notwendigen ökologischen, ökonomischen und sozialen Wandels. Sie entwickeln Strategien einer alternativen Wohnraumversorgung, schaffen neue und stabilere Organisations- und Finanzierungsmodelle ebenso wie sinn-stiftende Beschäftigung, chancengerechte Bildungsräume und Plattformen der aktiven Teilhabe von Bevölkerungsgruppen, die ansonsten ohne Stimme und Entfaltungsmöglichkeit bleiben. Oft sind es einzelne Projekte, die in die Stadt fortwirken und so Nischen der Aneignung und Infrastrukturen zivilgesellschaftlichen Handelns bereitstellen. Diese Akteure und Akteurinnen einer neuen urbanen Praxis, die Planung, Kunst und Soziales zusammen führt, betreiben damit selbstorganisiert Stadtentwicklung in kleinem Maßstab. Hier wird Stadt neu gedacht, hier entstehen Lösungsansätze und Wege für die aktuellen und künftigen städtischen Herausforderungen.
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Stadtentwicklung als gesellschaftspolitische Aufgabe
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Im Lichte der wachsenden Stadt, der Wohnungskrise und der verschärften Flüchtlingssituation gewinnt die Frage der Skalierbarkeit der vielfältigen Erfahrungen aus Projekten und Initiativen urbaner Selbstorganisation eine neue Dringlichkeit. Gefragt sind Möglichkeitsräume zwischen einer urbanen Praxis der Aneignung und der Herausforderung des großen Maßstabs. Um die Wirkung einer solchen anderen Stadtplanung zu verstärken, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Innovation fördern, neue Lösungsansätze zulassen und gemeinsame Prozesse ermöglichen. Denn gute Ideen brauchen Partner auf Augenhöhe, um sich vom Projekt zum Modell zu entwickeln.
Mit dem Bedeutungszuwachs der Städte wird auch die Stadtentwicklung zu einem zentralen (gesellschafts-)politischen Handlungsfeld. Die Entwicklung von Stadt von, mit und durch ihre Bewohner und Bewohnerinnen bietet eine echte Chance auf Re-Demokratisierung der Gesellschaft. Es ist daher aus vielfachen Gründen höchst an der Zeit, Strategien, Muster und Modelle einer selbstbestimmten Ko-Produktion von Stadt zu erkunden: Die „Stadt der Vielen“ braucht das Wissen der Vielen, um Lebensqualität, Chancengerechtigkeit und die Möglichkeit auf ein gutes Leben für alle zu gewährleisten. Eine Fülle an innovativen Projekten zeigt, dass dieses Wissen vorhanden ist. Jetzt ist die Politik gefordert, diese Akteure und Akteurinnen einer neuen urbanen Praxis ernst zu nehmen und Strukturen zu schaffen, die aus der Alternative für Wenige ein Angebot für Viele werden lassen.
Christoph Laimer und Elke Rauth sind Herausgeber von dérive - Zeitschrift für Stadtforschung und Veranstalter von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.
Die 7. Festivalausgabe findet von 23.9.-2.10. in Hamburg und von 12.10.-16.10. in Wien statt. urbanize! 2016 widmet sich unter dem Motto „Housing the Many - Stadt der Vielen“ den vielfältigen Erfahrungen aus Projekten urbaner Selbstorganisation und ihren Potentialen für eine Anwendbarkeit im größeren Maßstab.