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Rücker - Der Bahnhof - Abbild von Stadtgesellschaft?
Ich erinnere mich noch sehr gut an den Geruch der Wartehallen, an die schäbigen Kämmerchen der Bahnhofsmission und an das spezielle Flair der diversen Bahnhofsbeisln. Bahnhöfe waren immer jene öffentlichen Räume unserer Siedlungen und Städte, wo Menschen unterschiedlicher sozialer Klassen sich ziemlich nahe kommen. Der Bahnhof war schon immer Ort der Begegnung, freiwillig oder unfreiwillig, ein Ort des miteinander und des nebeneinander. Einer der öffentlichen Räume, wo Gesellschaft sich verhandelt.
Bahnhöfe sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Der Grazer Bahnhof – und andere auch - hat schon vor dem großen Umbau begonnen, sich zu verändern. Der nun seit zwei Jahren fertig gestellte Grazer Bahnhof hat die neue Rolle verdeutlicht. Er ist immer noch ein Ort der Reisenden, die ankommen und abreisen, aber das ist heute nicht mehr so ein außergewöhnliches Unterfangen. Wir alle reisen mehrmals und vielfältig. Weniger Emotionen – mehr Bewegung.
Der Bahnhof ist auch heute noch ein sozialer Brennpunkt. Wer da sein soll und wer nicht - diese Diskussion bewegt die Gemüter. Leben und leben lassen und sich darauf verlassen, dass „soziale Probleme“ versorgt werden und uns nicht tangieren - diese Sicherheit ist uns verloren gegangen. Am Bahnhof sehen wir wie unsere Gesellschaft auch ist und wie sie noch werden könnte. Roher, direkter, schmutziger als wir die Welt gerne durch unsere gefilterte Brille sehen. Die bisherige Funktion des Bahnhofs kommt nicht nur deshalb in Konflikt mit seinen neuen Rollen.
Bahnhöfe sind heute Orte, durch die täglich tausende pendelnde Menschen strömen, die auf dem Weg zur Arbeit und retour kaum mehr verweilen. Man besorgt maximal die Zeitung, den Kaffee während des alltäglichen Transfers. Aus den vereinzelten Imbissläden für den Reiseproviant wurde ein komplexes Einkaufszentrum mit Sonntags- und Nachtöffnung. Eilige Kunden und Kundinnen kommen hinzu, die vielleicht noch nie mit der Bahn gefahren sind, dafür aber umso mehr Parkplätze vor dem Bahnhof beanspruchen, was den knappen öffentlich verfügbaren Raum deutlich schmälert.
Mit der Umwandlung in eine möglichst reibungslos funktionierende Verkehrsmaschine einerseits, in den privatisierten Raum eines großen Einkaufszentrums andererseits, haben sich die Erwartungen an den Bahnhof stark verändert: So viel kühle Sauberkeit und konsumanregender Glanz vertragen sich nur schwer mit „unliebsamen“ Erscheinungen und Menschen, die den Bahnhof heute immer noch als Aufenthaltsraum nutzen – dieser Widerspruch war vorprogrammiert.
Während der Bauzeit flammte auch prompt die Diskussion über Sitzgelegenheiten am Bahnhofsvorplatz auf. Zum Glück haben in diesem Fall wir - die Fans vom konsumfreien Aufenthalt im öffentlichen Raum - uns durchgesetzt. Einigen wäre heute lieber, es gäbe sie nicht, die Bänke und die begehbare Wiese, die natürlich intensiv genutzt werden. Orte für den längeren Aufenthalt bedeuten Störung, sie bedeuten Raum für jene, die sich sonst nirgendwo niederlassen können und das bedeutet erheblichen Aufwand für Regulierung und Reinigung. Wer oft am Bahnhof ist, kann das erleben und die Not der Bahnhofsverwaltung auch verstehen. Diese Hybridfunktion zwischen öffentlichem, halböffentlichem und privatisiertem Raum ist eine große Herausforderung für uns als Stadtgesellschaft. Wir sollten diese nicht den heute privatisierten ÖBB alleine überlassen. Der Bahnhof zeigt uns wie unter einem Brennglas, worum es geht: wie eine Gesellschaft sich konkret anfühlt, die sich entsolidarisiert. Den Konflikt zwischen dem Anspruch an eine cleane künstliche Oberfläche und dem schmuddeligen, ungeordneten, tatsächlichen Leben mit all seinen Untiefen muss jetzt das private Wachpersonal austragen. Was unbefriedigend bleiben muss, alle Beteiligten überfordert und gleichzeitig deutlich macht: Wir haben uns als Gesellschaft in einem tradierten Wohlfahrtsstaat daran gewöhnt, dass uns das Unangenehme vom Leib gehalten wird. Nachdem aber soziale Sicherheit sukzessive durch den vermeintlichen Schutz vor dem „subjektiven Unsicherheitsgefühl“ ersetzt wird, gewinnen jene Orte an Brisanz, wo Unterschiedliche zusammentreffen. Wir, die Besitzenden und jene, die gerade noch dazu gehören und jene, die außen vor sind.
Die aktuelle Diskussion in Graz, in der die einen die Wiedereinrichtung einer Bahnhofsmission fordern, um die Zeit zurückzudrehen und andere mit rigorosem Ausgrenzen von unerwünschten Personen das Problem am liebsten aus den Augen und dem Sinn haben wollen, muss es noch einen „dritten“ adäquaten Weg geben, der den heutigen Anforderungen gerecht wird. Wir als Grüne bringen uns aktiv in diese Debatte ein und sind daran interessiert, dass mit den unterschiedlichen AkteurInnen eine Struktur entwickelt wird, die dem Wunsch nach Sicherheit und Konfliktbewältigung in dem Sinne gerecht wird, dass alle, auch die Schwächsten einbezogen bleiben. Dazu gehören öffentliche Verantwortung und PartnerInnen, die miteinander kommunizieren. Und es versteht sich, dass auch jene mitreden können, über die wir vorzugsweise immer nur in dritter Person reden. Im Idealfall nehmen wir die Realität als Ausgangspunkt und nicht eine Wunschvorstellung von einer artifiziellen, konsumgerechten Welt, in der nur die Starken sich den Raum nehmen. Ich bin davon überzeugt, dass für uns als Gesellschaft die aktive Auseinandersetzung mit Unterschieden und Konflikten die Chance sein kann, am Ende Vielfalt zu ertragen und das Miteinander vielleicht sogar als Bereicherung zu erleben. Wo sonst als hier am Bahnhof könnten wir im Kleinen ein Modell entwickeln, damit wir im Großen nicht scheitern?
Lisa Rücker ist grüne Stadträtin für Kultur, Umwelt und Gesundheit in Graz.