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Sorge - Arbeit am guten Leben
Am 17. April 2012 fand am IWM (Institut für die Wissenschaften vom Menschen) die sechste und letzte Diskussionsveranstaltung im Rahmen der mehrmonatigen Reihe „Sorge – Arbeit am guten Leben“ statt. Unter der Moderation von Andreas Novy, Obmann der GBW (Grüne Bildungswerkstatt Wien), resümierte ein hochkarätiges Podium über die zentralen Fragen und Befunde dieser Veranstaltungsreihe sowie über gesellschaftspolitische Perspektiven.
Es sind keine einfachen Fragen, denen sich die vier Expertinnen am Podium an diesem Abend vor einem interessierten Publikum stellen werden. Der Wohlfahrtsstaat ist in den letzten Jahrzehnten unter dem Eindruck der neoliberalen Globalisierung unter Druck geraten. Auch und insbesondere in der Pflege- und Sorgearbeit. Was bedeutet eine alternde Gesellschaft für Sorgende, Caregiver, und Umsorgte, Carereceiver? Was bringen sogenannte Mindeststandards in der Qualität von Sorgearbeit und worin besteht deren Gefahr? Warum begegnen Politik und Gesellschaft trotz zunehmender Bedeutung dem Sorge-Thema überwiegend mit Ignoranz und Ausblendung? Welche Rollen spielen und spielten Race, Class und Gender in der aktuellen und vergangenen Entwicklung?
Rasse, Klasse, Geschlecht.
Cornelia Klinger, Professorin für Philosophie an der Universität Tübingen und Permanent Fellow am IWM, kritisiert, dass die Gesellschaft in ihrer Entwicklung im Grunde keinen Schritt weiter gekommen ist. „Wer arbeitet denn heute im Care-Bereich?“, fragt Klinger provokant und gibt die Antwort darauf gleich selbst: „Care wird überwiegend von schlecht bezahlten Frauen niedrigeren Bildungsniveaus fremder Ethnien geleistet.“ Klinger vergleicht die Situation mit dem früheren Bürgertum. Schon damals seien es überwiegend weibliche, ortsfremde Dienstboten gewesen, welche die Pflege alter oder kranker Familienmitglieder übernommen hätten. Die Durchführung privater Sorgearbeit spielte sich also auch zu früheren Zeiten schon im Spannungsfeld Race, Class and Gender ab. Heute, im 21. Jahrhundert, sei Care ein globales Thema geworden, mit industrialisierten Billiglohnkräften beispielsweise aus Tschechien, Polen oder Thailand.
Qualitative Mindeststandards?
Die zunehmende Ökonomisierung von Care – mittlerweile werden rund 30 Prozent der Sorge- und Pflegearbeit von externen Anbietern geleistet, Tendenz steigend – verlangt nach bestimmten Qualitätskriterien. Grüne Arbeitnehmer- und Konsumentenschutzsprecherin im Nationalrat, Birgit Schatz, sagt dazu: „Wir brauchen in der Pflege einen qualitativen Mindeststandard für alle, und zwar unabhängig von der finanziellen Situation der Betroffenen.“ Aufgabe der Politik sei es, solch einen Mindeststandard festzulegen. Wie dieses Mindestmaß aussehen könnte, ist aber bislang ungeklärt. Laut Schatz sei hier die Wissenschaft gefordert, alternative Konzepte und Vorschläge zu präsentieren.
Mangelnde Forschungsgelder.
Elisabeth Conradi, Professorin für Gesellschaftstheorie und Philosophie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart kritisiert, dass in diesem Bereich Forschungsgelder und Professuren gestrichen würden. Zudem sei auffallend, dass ausgerechnet immer, wenn es um Kranke, Alte und Behinderte gehe von „Mindeststandards“ die Rede sei. Bei der Kinderbetreuung beispielsweise spreche kaum jemand von „Mindeststandards“, meint Conradi. In Wahrheit wolle doch jeder das Optimum.
Gerechtigkeit?
Auch Klinger kritisiert die sogenannten Mindeststandards in der Sorgearbeit, denn: „Wo es Mindeststandards gibt, gibt es auch Höchststandards. Gute Qualität ist teuer. Wer es sich leisten kann, bekommt gute Qualität, wer nicht, schlechte.“ So entstehe soziale Ungerechtigkeit. Es bedarf der politischen Meinungsbildung der Betroffenen und nicht des Marktes, warnt Klinger vor weiteren zunehmenden neoliberalen Tendenzen.
Novy ergänzt: „ Studien haben zudem ergeben, dass ungleiche Gesellschaften am weitesten vom guten Leben entfernt sind.“
Konfrontation statt Ignoranz durch soziales Jahr.
Beate Littig, Leiterin des Fachbereichs Soziologie am Institut für Höhere Studien in Wien, spricht den Zusammenhang von Erwerbsarbeit, gutem Leben und Sorgearbeit an. Sie weist darauf hin, dass unser klassisches Erwerbsarbeitmodell keineswegs die einzige Art (gut?) zu leben ist. „Man lebt auch heute nicht überall auf der Welt so“, sagt die Soziologin. Littig wünscht sich von der Politik eine Förderung von beruflichen Auszeiten. Zudem schlägt sie ein verbindliches soziales Jahr im Bereich der Sorgearbeit für alle Männer und Frauen vor, „um die Menschen damit zu konfrontieren“. Erst solch eine Konfrontation könne zum Verschwinden der aktuell herrschenden Ignoranz der Thematik in Politik und Gesellschaft führen. Durch die verstärkte Wahrnehmung der Situation würden sich Qualitätsstandards sowohl für in der Branche Beschäftigte als auch für Umsorgte verbessern.
Die Autorin Karina Böhm hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften studiert und ist Mitglied des GBW-Redaktionsteams.
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