- Demokratie
Wir Grünen sind nicht die Guten
Mir waren sie immer suspekt: die Taschen, Buttons und T-Shirts, auf denen in Variationen bekundet wurde, „Wir sind die Guten“. Heute meine ich, dass diese Grundhaltung, zu den Moralischen, zur Minderheit der Guten, zu gehören, jenes Gift ist, das die Grünen zerstört. Wenn Moral Politik ersetzt, wenn „Grundwerte“ wichtiger werden als die politische Analyse – dann sind Glaubenskämpfe und Inquisition nicht weit.
Die Stunde der Rechthaber
So sehr nichts, gar nichts dagegen spricht, zu versuchen, ethisch zu handeln, so destruktiv wird es für eine Organisation, wenn sie sich ein moralisierendes Selbstverständnis aneignet. Es stimmt, dass viele Grüne versuchen, richtig und gut zu handeln; aber dies tun auch Mitglieder anderer Parteien. Moralisches Bemühen auch dem politischen Gegner zuzugestehen, gehört zum Kern demokratischer Gemeinwesen.
Rechthaberei versteht Politik als die Verteidigung der eigenen Werte – im Falle der Grünen der „Grünen Grundwerte“, denen sich die Partei in ihrem Programm verpflichtet fühlt. Damit werden die Grünen Grundwerte aber fundamental missverstanden: Basisdemokratisch, gewaltfrei, ökologisch, solidarisch, feministisch und selbstbestimmt sind keine grünen zehn Gebote, sondern sie sind untereinander oftmals widersprüchlich und geben bloß Orientierungshilfen beim Treffen politischer Entscheidungen. Verkommen Grundwerte hingegen zu einem grünen Dogmatismus, zur grünen Wahrheit, dann wird gegen andere Meinungen nicht mehr politisch argumentiert – sie werden als Grundwertverletzungen denunziert. Je nach Situation ist die Spitze „undemokratisch“, die Basis „unsolidarisch“, die Widersprechenden „nicht gewaltfrei“. Politik als Rechthaberei, bei der Menschen „selbstbestimmt“ das Eigene mit allen Mitteln und ohne Kompromisse durchsetzen, ist fundamentalistisch. Und damit ebenso reaktionär wie eine Realpolitik, die das Ziel ihres Handelns aus den Augen verliert. Dies kritisch zu reflektieren und Schlüsse im Sinne des gemeinsamen Anliegens zu ziehen – darin besteht die Kunst der Politik.
Rechthaberei macht sich breit, wenn es kein Ziel mehr gibt. Und dies dürfte eine wesentliche Erklärung der aktuellen Krise der Grünen sein. Das zeigt auch der Rückblick auf den Bundespräsidentschaftswahlkampf: 2016 gab es vorübergehend ein großes Ziel, wenn auch ein sehr defensives und kurzfristiges. Viele begeisterten und engagierten sich, um „das Schlimmste“ zu verhindern – worunter van-der-Bellen-WählerInnen durchaus Unterschiedliches verstanden: von der Sorge um Menschenrechte und sozialen Zusammenhalt bis zur Verteidigung von Freihandel und Reisefreiheit. In diesem Bündnis spielten die österreichischen Grünen eine konstruktive, zentrale Rolle – auch deshalb, weil sie vermittelten, es ginge um etwas Größeres als bloß kleinkarierten parteilichen Vorteil. Das ernsthaft vermittelte Interesse an einer „Sache“ – einem gemeinsamen Ziel – ist Voraussetzung für politische Glaubwürdigkeit. Das politische System würde rasant an Legitimität gewinnen, würde sich diese Haltung verbreitern. Diese Art von Sachorientierung würde klar machen, dass Bündnisse keine faulen Kompromisse sind, sondern Grundbedingung einer pluralistischen Demokratie, die mit Andersdenkenden respektvoll umgeht. Bei diesem Abwägen und Kompromisse-Suchen könnten Grundwerte Orientierung liefern.
Weg ist das Ziel
Es rächt sich heute, dass unklar ist, was Grüne verbindet – über die Ablehnung der FPÖ hinaus. Die Wiener Grünen konnten in sechs Jahren Regierungsarbeit nicht vermitteln, dass die Stadt vor einer historischen Herausforderung steht: Das Rote Wien, das im 20. Jahrhundert unter sozialdemokratischer Regierung sozialen Zusammenhalt in vorbildlicher Weise verwirklichte, muss den Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Dies wird nur gelingen, wenn das Beste an liberalem und sozialdemokratischem Gedankengut bewahrt und bereichert wird durch die grüne Grundhaltung eines sorgsamen Umgangs mit Mensch und Natur. Dies umfasst zumindest drei Politikfelder: den Umgang mit Nachhaltigkeit; das Spannungsverhältnis von Vielfalt und Gleichheit sowie die notwendige Verantwortung für und Teilhabe am gemeinschaftlichen und öffentlichen Leben. Um diese Aufgaben anzugehen, braucht es die Bereitschaft zu lernen, Fehler zu machen und einen Neuanfang zu starten. Wissend, dass die Grünen nicht die Guten sind und nicht alles wissen und richtig machen, braucht es auch die Fähigkeit zu bunten, unkonventionellen Bündnissen – auch hier gäbe es von 2016 einiges zu lernen.
Gäbe es bei den Wiener Grünen ein Bewusstsein über diese historische Aufgabe, könnte Rechthaberei nicht die aktuellen destruktiven Dynamiken auslösen. Es würde verstanden, dass Politik nichts mit Werten zu tun hat, die man in sich trägt und die ewig gültig seien – gleichsam als sauberen Kern einer Grünen Identität. Im öffentlichen, politischen Raum interessieren Privatmeinungen nicht. Vielmehr geht es um das gemeinsame Ringen, wie angesichts bestehender gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse die möglichen Schritte hin zu einer Stadt der Teilhabe, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Vielfalt gesetzt werden können.
Dazu braucht es kein politisches Haltungsturnen, dazu braucht es eine gute politische Analyse. Schon eine oberflächliche Analyse der letzten Wochen zeigt: Auf Bundesebene ist jene Partei beschädigt, von der sich viele ein Gegengewicht zur rot-schwarz-blauen Politik autoritärer Sicherheitsmaßnahmen und neoliberaler Konkurrenzwirtschaft erhofften. Selbstkritische Fehleranalyse aller beteiligten Akteure wäre angesagt. In Wien ist die Lage noch dramatischer: Die mutige Verkehrs- und Planungspolitik der ersten grünen Vizebürgermeisterin ist schon lange Feindbild konservativer Gruppen. FPÖ und Boulevard haben sich seit Jahren auf Maria Vassilakou eingeschossen. Die Kritik von rechtsaußen könnte nicht wirksam werden, hätte die Grüne Regierungsarbeit nicht auch Fehler gemacht – manche meinen sogar große. Das mag sein, doch umgekehrt bleibt die Tatsache, dass seit einigen Jahren zweifelsfrei die ökologisch fortschrittlichste Mobilitätspolitik umgesetzt wird, die es in Wien je gab. Und selbst im heftig umstrittenen Planungsbereich gibt es breite Anerkennung, dass – bei allen Schwächen – unter Grün transparenter und partizipativer geplant wird als jemals zuvor. Deshalb wären selbstkritisches Lernen und das Ringen um noch bessere Umsetzungen mehr als notwendig – im Wissen um die politischen Kräfteverhältnisse, in denen man sich bewegt.
Doch all dies verunmöglicht die destruktive Kultur der Rechthaberei. Vor allem rechthabende Männer haben, sehr zur Freude von chauvinistischen, tendenziell fremden- und frauenfeindlichen Massenmedien und von Blau-Schwarz, eine Situation geschaffen, in der diese progressive Politik und ihre zentrale Repräsentantin schwer beschädigt sind. Sie haben – auch hier in Übereinstimmung mit dem Demokratieverständnis der FPÖ – eine direktdemokratische Abstimmung unter einem für diese Entscheidung höchst zweifelhaft legitimierten Personenkreis durchgeführt. Das Ergebnis hat Bedeutung weit über den Kreis der Befragten und das konkrete Thema Heumarkt hinaus. Zu Recht fragt man sich nach dem Demokratie- und Teilhabeverständnis einer Partei, die Parteimitgliedern erlaubt über etwas abzustimmen, bei dem alle öffentlichen Planungsverfahrensschritte abgeschlossen sind.
Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit
Gibt es einen Ausweg aus der verfahrenen Situation? Ich weiß es nicht. Ich kann nur eine Voraussetzung nennen, ohne die keine Lösung in Sicht ist: Die Kultur der Rechthaberei muss ein Ende finden. Es gibt keine Politik, bei der nur das Reine, Wahre und Gute umgesetzt wird. Politik ist Konflikt, Verhandlung, Kompromiss – vor allem bei jener großen Aufgabe, der sich das Grüne Verkehrs- und Planungsressort widmen muss: die Transformation der Stadt hin zur Nachhaltigkeit bei Bewahrung des sozialen Zusammenhalts. Und dies unter den Bedingungen neoliberaler Globalisierung, einer kritisch-feindlichen Medienlandschaft und einem orientierungslosen Koalitionspartner. Unter diesen Rahmenbedingungen sind Fehler vermutlich unvermeidbar. Deshalb braucht es Bescheidenheit und Ernsthaftigkeit, die respektvolle, dialogorientierte und parteiübergreifende Suche nach Kompromissen. Wir Grünen sind nicht die Guten. Und doch zeigt die politische Analyse: Es ist gut, dass die Grünen in den letzten Jahren die Wiener Verkehrs- und Planungspolitik mitgestaltet haben. Diese Möglichkeit zur Mitgestaltung kalkuliert und bewusst von Anfang an aufs Spiel gesetzt zu haben, ist die politische Verantwortung der Rechthaber.
Andreas Novy ist Obmann der Grünen Bildungswerkstatt und Mitglied des Bundesvorstands der Grünen.